MITTE! Modernisierung und Zerstörung | Benedikt Goebel
Benedikt Goebel: MITTE! Modernisierung und Zerstörung des Berliner Stadtkerns von 1850 bis zur Gegenwart.
Lukas Verlag, Berlin 2018.
Hrsg. vom Bürgerforum Berlin e.V.
ISBN 978-3-86732-294-2, 19,80 €
Allen Streitern für Schutz und Pflege der historischen Bausubstanz Berlins sei die Lektüre dieser Veröffentlichung empfohlen, denn im Umgang mit der Stadt als einem historisch gewachsenen und von den Zwängen von "Moderne" gebeutelten Organismus bekundet sich, welche Bedeutung die hoheitlichen Entscheidungsträger der Senatsverwaltungen (und auch die unverzichtbaren "Investoren") dem hohen Gut von Schutz und Bewahrung der geschichtlichen Zeugnisse zumessen. Im Vorwort der Veröffentlichung wird gleich zu Anfang die Position der Herausgeber, des Bürgerforums, deutlich: "Die von der Senatsverwaltung 2015 und 2016 durchgeführte Bürgerbeteiligung ‘Alte Mitte – Neue Liebe‘ führte zu dem Ergebnis, alles solle so bleiben wie bisher – nur die Grünanlagen werden etwas gepflegter. Das kann keine Lösung sein." Der ehemalige Senatsbaudirektor Hans Stimmann hatte sich mit dem Grundsatz der kritischen Rekonstruktion da ganz anders orientiert. Das Bürgerforum begegnet also der Position der heute zuständigen Senatsverwaltung kritisch bis ablehnend. Es fordert: "Der Genius Loci unserer Stadtgeschichte sollte kreativ weiterentwickelt werden." Ziel der Publikation ist es somit, "in umfassender Kenntnis der vollständigen Planungs-, Bau- und Besitzgeschichte – und dies schließt die DDR-Epoche ausdrücklich ein – kann eine Neugestaltung des Stadtkerns formuliert werden […]." Damit bekennt sich das Bürgerforum zu einer sich jedoch erst mit den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts entwickelnden Überzeugung von der Schutzwürdigkeit des geschichtlichen Denkmalbestandes. Das Foto "Traditionsinsel Märkisches Ufer" auf Seite 115 belegt den Beginn dieser Entwicklung. Tatsächlich folgte sogar die ältere Denkmalpflege der Nachkriegszeit der Überzeugung, in einer "Traditionsinsel" - auch nach hier umgesetzte – historische Bauten zusammenzufassen und in einer Art Freilichtmuseum vor der sonst am originalen Standort unausweichlichen Vernichtung zu schützen. Die Idee der Traditionsinsel verkehrte sich damit indirekt zur Zustimmung einer ungebremsten Modernisierung. Sehr schnell setzte sich dann die Überzeugung durch, ausgehend von der Bedeutung als Dokumentarwert, dass der Stadtgrundriss mit seinem Straßengefüge sowie der Qualität der öffentlichen Räume und ihres Maßstabs und selbst der Zuschnitt der historischen Parzellen Dokumente der Geschichte seien (und sind). Den Wendepunkt zu einer solchen umfassenderen Bewertung verdeutlichte in der Akademie der Künste eine im Rahmen der Berliner Bauwochen 1974 aus den Niederlanden übernommene Ausstellung mit dem lapidaren Titel "Die Straße", vom Berliner Landeskonservator ergänzt und mit einer Broschüre "Die Berliner Straße" begleitet. Wenig später kam mit der IBA die Forderung nach "Stadtreparatur" hinzu. Das hat sich heute in die Konfrontation zweier Überzeugungen schrecklich vereinfacht: einmal in die vom ungebremsten Vorrang des Modernen (um 1970 hieß das noch bei SenStadtBau: "Die Stadt soll ja leben!") und andererseits in den bürgerlichen Widerstand der "Konservativen". Damit gleiten die Haltungen in die reine Konfrontation von Ideologien ab, was erfahrungsgemäß keine fruchtbare Zusammenarbeit zulässt. Die jetzt erschienene Veröffentlichung des Bürgerforums wird als Versuch verstanden, die verhärteten Positionen aufzubrechen. Beide Parteien haben sich dann im Dialog damit zu beschäftigen, was "Rekonstruktion", was das (Wieder) Aufgreifen historischer Strukturen und Gebäudetypen bedeutet und wie deren Einbindung in moderne Ausdrucksformen zu gestalten ist. Dazu gehört aber auch andererseits zwingend, sich mit dem in der Gründerzeit des 19. Jahrhunderts beginnenden historischen Entwicklungsprozess der Umformung der Berliner Altstadt zur City mit allen Konsequenzen für die Verkehrsführung, die Nutzungsansprüche zur Versorgung der Großstadtbevölkerung und mit der Bevölkerungsstruktur einschließlich von deren mentaler Verfasstheit zu beschäftigen. Der Franzose Jules Huret schrieb im heute so gut wie vergessenen Buch "Berlin um Neunzehnhundert": "In München pflegt man von einem, der in Berlin geboren ist, zu sagen: ‘Irgendwo muss man ja zur Welt kommen‘, ‘… der ist eben von Berlin […].‘ Berlin wird nämlich von den Deutschen nicht als Hauptstadt Deutschlands anerkannt. Köln, Hamburg, Dresden, München, alle die alten Großstädte weigern ihm diesen Vorrang. Die konkurrierenden Ädilen machen gerne darauf aufmerksam, dass es in Berlin kaum ein altes Denkmal gebe, die Kaufleute führen die ein bis zwei Handelshäuser an, die höchstens auf hundert Jahre zurückblicken, indes Bremen, Mainz, Köln, Leipzig und zehn andere wichtige Städte sich ihrer zweihundertjährigen Firmen rühmen dürften." Das "irgendwo" sollte Beliebigkeit zum Ausdruck bringen, bedeutete im Kern aber, dass sich Berlin anders als die mental konservativ verfassten Städte als ein liberales, dem ungehinderten Fortschritt verpflichtetes Gemeinwesen verstand, das über die Bindungen aus seiner Geschichte einfach hinwegging. Bis heute folgt die Stadt über die Jahre der Weimarer Republik hinweg wohl inzwischen nur noch unbewusst diesem Leitbild. Frage also: Kann sich ein bis heute eingefleischtes mentales Selbstbewusstsein ändern, obgleich sich inzwischen ein Teil der Bevölkerung vehement dagegen auflehnt, aber die Entscheidungsträger immer noch von veralteten Leitbildern geprägt sind? Vielleicht gelingt es dem Bürgerforum, in einem Folgeband sich diesen nur verbal zu beschreibenden "Verflechtungen" zuzuwenden, denn mit wenn auch eindrucksvollen historischen Fotografien allein – wie es die vorliegende Publikation versucht – kann man dem komplexen Gefüge nicht gerecht werden.
Prof. Helmut Engel